Wie trägt Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) dazu bei, unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen? Wie, wo und was lernen wir, um die nachhaltige Transformation aktiv mitzugestalten?
Das Haus des Wissens wird die neue Heimat der Zentralbücherei und der vhs. Ein Ort der Bildung und Begegnung.
– ein Ort, der die Innenstadt belebt. Gemeinsam mit den Hochschulen im UniverCity-Verbund wird das HdW
auch ein Zentrum für „Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE)“.
Prof. Dr. Jürgen Bock
UniverCity – interdisziplinärer und institutionsübergreifender Wissensverbund in Bochum
Helle Timmermann
Leiterin der Volkshochschule Bochum
Armin Seif
Politikwissenschaftler (Universität Oxford) und Integrationsbeauftragter beim Deutschen Roten Kreuz
Dr. Jacinta Kellermann
Dozentin und Vertretungsprofessur für Nachhaltigkeit und Ökonomie an der Hochschule Bochum
Dr. Najine Ameli
Geschäftsführerin der „Bibliothek der Dinge“ in Bochum

„Besonders im Bereich der Bildung junger Erwachsener dreht sich viel um das praktische Erleben. Sie kommen aus der ganzen Welt zu uns und bringen Kompetenzen mit, von denen auch wir wiederum

lernen können.“

Helle Timmermann
505
reparierte Gegenstände
2808
ausleihbare Gegenstände
Was das bedeutet sowie verschiedene Herangehensweisen und Konzepte diskutieren hier Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bochumer Bildungseinrichtungen. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) soll Menschen dazu befähigen, die Zukunft aktiv zu gestalten und eine lebenswerte Umwelt für kommende Generationen zu sichern. Durch BNE lernen wir, global zu denken, lokal zu handeln und nachhaltige Lösungen für die Probleme unserer Zeit zu finden.

Jürgen Bock (UniverCity Bochum): Welche Konzepte und Strategien gibt es aktuell im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung?

Jacinta Kellermann (Hochschule Bochum):
In diesem Bildungs­bereich benötigen wir Strategien für ganz unterschiedliche Ziel­gruppen. Angefangen bei Kleinkindern und Kindern als Vertreter­innen und Vertretern der nächsten Generation über Schüler, Studierende, Erwachsene in der Weiterbildung bis zu Seniorinnen und Senioren, denn das Ziel ist immer lebenslanges Lernen. Ich finde es ganz besonders spannend, wenn man diese Gruppen in einen Austausch bringt, weil sie sehr viel voneinander lernen können. Für alle diese Gruppen brauchen wir vielfältige Ansätze. Ein ganz wichtiger Kernpunkt bei allen Konzepten ist meiner Meinung nach die Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der Menschen mit der Frage:
„Was interessiert die Menschen
aktuell in ihrer Lebenssituation?“
Armin Seif (Politikwissenschaftler): Viele Konzepte zur Bildung für nachhaltige Entwicklung richten sich an bereits sensibilisierte Bevölkerungsgruppen. Insbesondere in Deutschland hat das Bewusstsein für diese Themen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Dennoch stelle ich insgesamt eine mangelnde Motivation fest, tatsächlich ins Handeln zu kommen. Es ist entscheidend, dass alle Teile der Gesell­schaft einbezogen werden, auch diejenigen, die das Thema als weniger dringlich betrachten.

Helle Timmermann (Volkshochschule Bochum): In der Bildung für nachhaltige Entwicklung ist uns ein lebensweltorientierter Ansatz für vielfältige Zielgruppen besonders wichtig, gerade wenn wir Menschen erreichen wollen, die noch nicht sensibilisiert sind. Die Entwicklung dieser Bildungskonzepte ist hochgradig komplex und interdisziplinär.

Najine Ameli (Bib der Dinge): Mit der „Bibliothek der Dinge“, in der man Gebrauchsgegenstände einfach ausleihen kann, sind wir an der Basis praktischer Erlebbarkeit der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Hier findet ganz alltäglicher Wissenstransfer statt.

„Wenn ich einen Tag bei uns in der Bib verbringe, bin ich danach schlauer als nach drei Semestern Studium.“

Zu uns kommen die Leute nicht unbedingt aus ökologisch motivierten Gründen. Sie möchten einfach Geld sparen oder neue Dinge ausprobieren. Der positive Impact passiert dabei ganz automatisch, unbürokratisch, unpädagogisch und auf emotionaler Ebene.

Helle Timmermann: Das sind ganz wichtige Aspekte funktionierender Bildung. Es geht ja nicht nur um Wissens-, sondern auch um Kompetenzförderung. Eine dieser Kompetenzen ist der Umgang mit Veränderungen. Dazu kommt die normative Kompetenz, Werte zu hinterfragen wie: „Ist das eigentlich richtig, was ich bisher gedacht habe?“

Jacinta Kellermann: Wichtig dabei ist vor allem Augenhöhe. An der Hochschule lerne ich als Vertretungsprofessorin tagtäglich sehr viel von den Studierenden.

Jürgen Bock: Mit welchen Strategien, Medien oder Technologien erreicht man die Menschen ganz konkret?

Najine Ameli: Das alleinige Angebot reicht nicht aus. Es sollte immer auch kommunikativ flankiert werden. Wir müssen versuchen, auch Gruppen zu erreichen, die noch kein Nachhaltigkeits-Mindset haben.

Armin Seif: Wie die Europawahl verdeutlicht hat, geraten Themen wie der Klimaschutz oft schnell in Vergessenheit. Es ist daher essenziell, das Bewusstsein für die „Urgency“ (Dringlichkeit) dieser Themen fortlaufend zu schärfen. Da jedoch die Wirkung solcher Dringlichkeitsappelle häufig rasch abklingt, ist es notwendig, eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze zu nutzen, um diese wichtigen Themen dauerhaft im kollektiven Bewusstsein zu verankern.

Najine Ameli: Wenn Themen wie Klimaschutz aus unserem Alltag verschwinden, neigen wir dazu, sie zur Seite zu schieben. Oder man hört täglich von neuen Klimakatastrophen und ist irgendwann der schlechten Nachrichten müde. Menschen, die für das Thema affin sind, kann man mit Dringlichkeitsaufrufen leichter erreichen. Aber all die Menschen, die noch überhaupt gar nicht auf diesen Zug aufgesprungen sind, die muss man ganz woanders herholen. Da braucht man eine ganze Palette an Methoden.

Jacinta Kellermann: Zum Beispiel betreue ich seit 2020 eine Projektstudie zum Thema Repair-Kultur. Dabei geht es nicht um die eigentlichen Repair-Skills, sondern darum, den Wandel zur Nachhaltigkeitskultur bewusst zu machen. Das funktioniert nicht nur über die realen Repair-Cafés, sondern zum Beispiel auch über TikTok oder Instagram, Kinderbücher und Workshops.
Jacinta Kellermann: Wir sollten auch gezielt Räume für stark marginalisierte Gruppen schaffen, damit auch sie sich sicher ausdrücken können. Dies ist entscheidend, da kleinere Minderheiten oft weniger Zugang zu Ressourcen haben als größere, gut vernetzte Gruppen. Mit inklusiven Plattformen stellen wir sicher, dass jede Stimme gehört wird und keine Bedürfnisse übersehen werden.
Foto: © Simone Emmerich
Armin Seif: Zusätzlich sollte Medienkompetenz gefördert werden, um die sogenannte „digitale Kluft“ in der Gesellschaft zu überbrücken. Als Sicherheitspolitiker warne ich vor den Gefahren von Fehlinformationen, politischer Propaganda und Manipulation. Daher ist der Erwerb von Medienkompetenz besonders wichtig. In diesem Kontext gibt es eine Initiative der Stadtbücherei gemein­sam mit dem Deutschen Roten Kreuz, den Bochumer Jugendmedienpreis, der außerschulische Programme zur Förderung von Medienkompetenzen für Kinder und Jugendliche anbietet.

„Bei uns findet sehr viel Wissenstransfer statt, von ganz jung zu ganz alt, einfach von Mensch zu Mensch.“

Najine Ameli
Helle Timmermann: Intergenerationelles, interkulturelles und inklusives Lernen beschreiben die Metaebenen unserer Bildungskonzepte. Danach geht es um Kooperation, Selbstreflexion, Selbstkompetenz und normative Kompetenz.

Jürgen Bock: Inwieweit sind soziokulturelle Differenzen in der Gesellschaft eine Herausforderung für die Bildung für nach- haltige Entwicklung?

Jacinta Kellermann: Inklusion ist auch im Rahmen von BNE ein wichtiges Thema. Barrierefreiheit ist hier nicht nur architektonisch, sondern auch soziokulturell gemeint. Zudem bestehen Differenzen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Strömungen. Auf der einen Seite die Klimabewegung und die „Nachhaltigkeits-Bubble“, auf der anderen Seite beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund, die dort nur wenig vertreten sind. Es wäre wünschenswert, wenn man es schaffen könnte, hier Augenhöhe reinzubringen und zu sagen: Wir können auch von euch ganz viel lernen, egal wo ihr herkommt und was ihr mitbringt.

Najine Ameli: In der Bib der Dinge sind die Hürden sehr klein, weil es wenig akademisch zugeht. Da packt man einfach mit an. Man fühlt sich einfach „zu Hause“.
Armin Seif:

„Nachhaltige Entwicklung ist ja sehr eng mit Development Studies verbunden.“

Dabei geht es unter anderem um die Dominanz westlicher Perspektiven gegenüber dem sogenannten globalen Süden. Aus diesen Regionen stammen nämlich viele innovative Ideen im Bereich der Nachhaltigkeit, die teilweise auf Jahrtausendealten, tief in diesen Kulturen verwurzelten Traditio­nen basieren.“
Helle Timmermann: Wir suchen uns für Angebote an bestimmte Zielgruppen Kooperationspartner oder -partnerinnen, die uns die Perspektivenvielfalt mit hineinbringen. Gerade arbeiten wir zum Beispiel mit einem afrikanischen Verein zusammen. Wir möchten auf Augenhöhe kooperieren und unterschiedliche Perspektiven gleichberechtigt wahrnehmen und einbringen.

Jürgen Bock: Wie kann Kooperation und Zusammenarbeit erfolgen? Wie kann man Formate entwickeln, um die Zivil­gesellschaft und die Stadtgesellschaft zu erreichen?

Helle Timmermann: Kooperationskompetenz bedeutet ja auch, unabhängig von akademischen Titeln oder anderen Voraussetzungen wertschätzend zu interagieren. Wichtig ist, mit Neugier auf andere zuzugehen und sich zu fragen: Was ist deine Perspektive? Was bringst du mit? Was bringe ich mit? Ich glaube, das hat ganz viel mit Kommunikation über die unterschiedlichen Erwartungshaltungen und die verschiedenen Ziele zu tun.

Jacinta Kellermann: Im Rahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung gibt es den Ansatz des „Whole Institution Approach“. Das bedeutet, dass alle Bereiche und Mitglieder eines Lernortes – einschließlich Verwaltung, Lehre, Forschung und Infrastruktur – systematisch und integrativ zusammenarbeiten, um das gemeinsame Ziel der Nachhaltigkeit zu erreichen. Dazu müssen dann auch alle Mitarbeitenden einer Institution geschult werden.
Jacinta Kellermann: Wir sollten auch gezielt Räume für stark marginalisierte Gruppen schaffen, damit auch sie sich sicher ausdrücken können. Dies ist entscheidend, da kleinere Minderheiten oft weniger Zugang zu Ressourcen haben als größere, gut vernetzte Gruppen. Mit inklusiven Plattformen stellen wir sicher, dass jede Stimme gehört wird und keine Bedürfnisse übersehen werden.

„Bildung für nachhaltige Entwicklung hat auch das Ideal, gute politische Bildung zu sein.“

Armin Seif
Helle Timmermann: Für mich ist das auch kein Widerspruch zu einem für alle offenen Haus. Im Gegenteil ist es für viele ja eine Voraussetzung dafür, dass das Haus für alle da ist. Für einige Menschen ist es manchmal einfach nicht möglich, an einem Angebot teilzunehmen, was für andere völlig normal wäre.

Armin Seif: Wir müssen die organisatorische Infrastruktur dafür schaffen, dass eben genau das funktionieren kann. Wir müssen uns fragen: Wie sieht diese Form der Beteiligung, des gemeinsamen Gestaltens, aus? Was müssen wir dafür schon im Vorfeld berücksichtigen, damit es später mit Leben gefüllt werden kann?

„Partizipation ist
ein ganz wesentlicher
Bestandteil des
BNE-Ansatzes.“

Armin Seif
Foto: © Simone Emmerich
Helle Timmermann: Ohne Partizipation ist BNE fast nicht denkbar. Was die Bürgerinnen und Bürger davon haben werden, ist, dass BNE sehr spannendes und sehr praktisches Erleben bieten kann. Und dass man selber nach so einem BNE-Angebot gestärkt und zuversichtlich in die Zukunft blickt.

Jacinta Kellermann: Und in seinen Kompetenzen gestärkt wird. Es ist gar nicht wichtig, dass über diesen Veranstaltungen „Nachhaltigkeit“, „nachhaltige Entwicklung“ oder „Klimaschutz“ steht, sondern dass es darum geht: Was brauchen denn eigentlich die Menschen? Die Nachhaltigkeit kommt dann automatisch. Wenn man in eine Veranstaltung kommt, um zu erfahren, wie man ein Insektenhotel baut oder wie man ein Radio repariert oder andere in der Praxis relevante Dinge, dann ist das BNE und man hat Kompetenzen, die nachhaltigkeitsrelevant sind, ohne erhobenen Zeigefinger erworben.

Najine Ameli: Bildung für nachhaltige Entwicklung muss für jeden einzelnen Menschen auch einen Mehrwert haben.

Jacinta Kellermann: Deshalb ist Augenhöhe so wichtig. Die Menschen sind eben nicht nur Konsumenten, sondern auch Prosu­ment:innen, die eigene Beiträge leisten möchten. Als Essenerin nehme ich wahr, dass die Nachhaltigkeits-Community in Bochum wahnsinnig aktiv ist. Hier gibt es unglaublich viele ganz, ganz tolle kleine Initiativen, die bottom-up entstanden sind, die supertolle Arbeit machen und die für den Kulturwandel eine wahnsinnig große und wichtige Rolle spielen. Es gibt hier ein ganzes Portfolio an Nachhaltigkeitsinitiativen, wo nicht „Nachhaltigkeit“ im Namen steht, die aber eigentlich BNE an der Basis machen.

Helle Timmermann: Die BNE-Klammer ist einfach sehr wertvoll, weil sie so viele verschiedene Dimensionen beinhaltet. Es geht darum, Ungleichheiten zu reduzieren und Teilhabe zu ermöglichen.

Ein Ort
mit Strahlkraft.